Zur Beurteilung dieser Frage sind die grundsätzlichen Auswirkungen der Inflation auf Aktien anzuführen.


Diskontierungszinssatz

Mit einer Aktie wird ein langer Strom von zukünftigen Cashflows, die auf den Umsätzen und Gewinnen des Unternehmens basieren, gekauft. Der aktuelle Aktienkurs beruht auf dem heutigen Wert dieser zukünftigen Zahlungsströme, dem Barwert. Dieser Barwert ist der gegenwärtige Wert eines jeden Geldbetrags, der unter der Berücksichtigung von risiko-adjustierten Zinssätzen diskontiert wird.

Was sind z.B. 1 Mio. Euro an Cashflow in einem Jahr aktuell wert? Der Betrag ist durch 1 plus den Zinssatz zu teilen, der bei der Bank für einen Kredit zu bezahlen wäre (z.B. 1%). So würde der gegenwärtige Wert von 1 Mio. Euro (pro Jahr von jetzt an) 990.099,00 betragen. Steigt der Zinssatz mit der Inflation auf beispielsweise 5% beträgt der Barwert nur mehr 952.380,95. Je weiter ein Cashflow in der Zukunft liegt und je höher der Zinssatz ist, desto niedriger ist der Barwert des Zahlungsstroms.

In einem normalen Marktumfeld beeinflusst die Inflation die von den Zentralbanken festgelegten Leitzinsen dahingehend, dass sie tendenziell steigen. Der Zinssatz für die Diskontierung der zukünftigen Cashflows steigt, der Barwert dieser langfristigen Zahlungsströme sinkt.

Cashflows

Steigende Preise bedeuten auch, dass Unternehmen höhere Umsätze und Gewinne erwirtschaften können, sofern die Inputkosten zumindest im gleichen Ausmaß an die Kunden umgelegt werden können. Das führt zu höheren Cashflows und zu einem höheren Barwert.

In einem normalen Marktumfeld sollten sich die beiden Inflationseffekte des Diskontierungszinssatz und der Cashflows in etwa aufheben.

Konjunktur

Im Konjunkturzyklus variiert die Inflation bezogen auf das jeweilige Wachstumsstadium. Zu Beginn eines Wirtschaftszyklus ist die Inflation oft niedrig. Mit der wirtschaftlichen Erholung verkaufen die Unternehmen mehr zu steigenden Preisen. Während sie höhere Umsätze und Gewinne erzielen, finden die meisten Menschen Arbeit.

Je stärker das Wachstum, desto größer die Nachfrage nach Rohstoffen und Arbeitskräften. Dies führt im Normalfall nicht nur zu weiter steigenden Preisen, sondern auch zu höheren Löhnen. Bleibt die Inflation hoch – trotz nachlassender Dynamik der konjunkturellen Erholung bei gleichzeitiger Zunahme der Arbeitslosigkeit – sprechen die Marktteilnehmer von Stagflation (Stagnation plus Inflation).

Wie reagieren die Unternehmen in ihrer Preisstrategie auf die jüngsten Inflationsanstiege?

Die meisten versuchen zunächst ihre Produktivität durch Kosteneinsparungen, zum Beispiel durch Optimierung der Produktion und Logistik, zu steigern. Große Technologieunternehmen haben bei den Inputkosten meist wenig Einsparungsmöglichkeiten und besitzen aufgrund hoher Margen einen großen Puffer gegen steigende Lohnkosten. Hohe Inflationsraten beeinflussen das Bewusstsein der Konsumenten, sodass diese eher höhere Preise akzeptieren. Neben den bekannten Entwicklungen auf der Angebotsseite (zu geringe Förderung von Rohstoffen, Knappheit bei Halbleitern, geringere Bereitschaft der Arbeitnehmer zu denselben Löhnen wie vor der COVID-Krise zu arbeiten) könnte dies zu einer Preisspirale führen.

Wie reagierten Aktienkurse auf Phasen anhaltend hoher Inflation?

Historisch gesehen fielen die Aktienkurse eher, wenn die Inflation stieg. Diese Inflationsillusion ist in der Sorge der Anleger um den Barwert begründet, die gleichzeitig das höhere Wachstum der Cashflows ignorieren bzw. nicht so hoch gewichten.

Abgesehen von den insbesondere seit der Finanzkrise 2008/09 offenen „Whatever it needs“-Bekenntnissen der Notenbanken, waren Zeiten steigender Inflation mit höheren Zinsen verbunden, was die Bewertung der Aktien schwächte. Von 1972 bis 1982 (u.a. Aufhebung des Goldstandards, erste große Ölkrise) stiegen die US-Zinsen von 6 auf 16%, nachdem die Inflationsrate 1981 auf fast 15% kletterte.

Das Kurs-Gewinn-Verhältnis des S&P 500 fiel damals von 24 auf 8, was bedeutete, dass ein US-Dollar-Jahresgewinn an der Börse nur noch mit 8 statt mit 24 US-Dollar bewertet wurde. Die Aktienmärkte tendierten bei hoher Volatilität seitwärts, sodass sich der S&P 500 1982 auf dem gleichen Niveau wie 10 Jahre zuvor befand. Die Aktienkurse sind nicht noch tiefer gefallen, weil sich die Gewinne der Unternehmen gleichzeitig verdreifacht haben. Die jährlichen Gewinnsteigerungen lagen bei 11,6%, wobei 9% auf die Inflation zurückzuführen war. Die jährlichen Dividendenzahlungen von 4% p.a. reichten aber nicht aus, um den inflationsbedingten Kaufkraftverlust auszugleichen.

Aktuell halten die Notenbanken trotz steigender Inflation die Zinsen niedrig, und die (auch inflationsbedingten) Gewinne der Unternehmen führen zu höheren Aktienkursen, da sie nicht durch einen Bewertungsrückgang aufgebraucht werden. Wichtig ist die Nachhaltigkeit der Cashflows und die Investition in zukunftsträchtige Unternehmen deren Geschäftsmodelle vielversprechend sind. Large Cap und Quality Growth sind aktuell jene Faktoren, die in der Zusammensetzung von Aktienportefeuilles auch in nächster Zeit dominieren könnten. Die sogenannten „FANG“-Aktien könnten damit im Mittelpunkt des Interesses der Marktteilnehmer bleiben. Jene Aktienindizes, die von Wachstumsunternehmen dominiert werden, werden wohl zu weiteren Höchstständen steigen bzw. nur relativ geringe Rückschläge zu verkraften haben.

Mag. Christian Tury
Chief Investment Officer